Wednesday, September 26, 2012

Kain, Abel, der Herrgott und die Zeichen


Werfen wir einen semiotischen Blick auf eine der ältesten und bekanntesten Kriminalgeschichten der Welt: Kain erschlägt seinen jüngeren Bruder Abel. Ich schreibe bewusst Kriminalgeschichte (lat. crimen = Verbrechen) und nicht Detektivgeschichte (vgl. engl. detect  = aufdecken), da der Herrgott der Torah bzw. des Alten Testaments ohnedies von Anfang an immer alles weiß. Daher muss er den Brudermord nicht erst post festum als Detektiv à la Sherlock Holmes aufklären. Dazu kommt, dass Kains Blut quasi von selbst zum Himmel „schreit“, wie es in der Bibel so schön heißt. Außerdem gab es damals ohnehin nicht viele Verdächtige außer Adam, Eva, Kain und vielleicht noch der Schlange. Obwohl Kriminalgeschichten definitonsgemäß semiotisch anspruchsloser sind als Detektivgeschichten, lässt sich gerade an dieser archaischen Kriminal-Dreiecksbeziehung zeigen, wie sehr sich eine semiotische Analyse von anderen Interpretationen und Erkenntnisinteressen unterscheidet.

Das Unheil beginnt - zumindest dramaturgisch - damit, dass Kain und Abel dem Herrn Opfer bringen. Der weitere Verlauf wird im 1. Buch Mose, Kap. 4 so erzählt:

„Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. (.....) Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“
Der Herrgott, der alles sieht und weiß, stellt Kain zu Rede und verflucht ihn. Kain bekommt es mit der Angst zu tun, selbst zum Mordopfer zu werden, aber der Herr erweist sich als aktiver und weitblickender Semiotiker: „(...) der HERR machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.“

Dieser semiotische Schlussakt ist die auffälligste aber bei weitem nicht die einzige Zeichenoperation, die diese Geschichte charakterisiert. Bevor wir genauer auf das semiotische Ping-Pong zwischen Kain und dem Herrgott eingehen, ist noch eine – ebenfalls semiotische – Richtigstellung angebracht: Natürlich stimmt meine einleitende Behauptung, „Der weitere Verlauf (werde) im 1. Buch Mose, Kap. 4 so erzählt“, nicht ganz. Sprachlich ist die Version, die ich zitiert habe, vermutlich die Bearbeitung einer Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung. Schon allein die Grundsatzfrage, ob heilige Texte als Wort eines Gottes/einer Göttin oder seiner/ihrer ProphetInnen überhaupt aus einem Originalzeichensystem (wenn es denn ein Original gibt) in andere Zeichensysteme (Sprachen, Bilder) übersetzt werden dürfen, ist bei kirchlichen Autoritäten  – je nach Religionszugehörigkeit – teilweise höchst umstritten. Wenn die Übersetzung an sich erlaubt wird, dann wird in der Folge logischerweise die Frage nach der „richtigen Übersetzung“ zur Streitfrage, an der sich Glaubenskriege entzünden können, wie wir von Martin Luthers Maxime „sola scriptura“ - nur die (heilige) Schrift ist ausschlaggebend - und den Reformationskriegen wissen.

Ich werde die Frage der Übersetzung als semiotischer Operation, bei der es um weit mehr geht, als den Versuch, die Zeichen einer Sprache durch die möglichst „entsprechenden“ Zeichen einer anderen Sprache zu ersetzen, noch ausführlich behandeln. Da in diesem Abschnitt jedoch der „semiotische Blick“ im Vordergrund steht, genügt es vorerst, wenn wir vom genauen Wortlaut, den Details und den Variationen der zahlreichen Übersetzungen absehen, und uns an die Grundstruktur, das Skelett der Geschichte, halten:

1) Adam und Eva haben mehrmals Sex miteinander und Eva gebiert zwei Söhne. (Sex wurde oft als „Adam erkannte Eva“ eingedeutscht, - soviel an dieser Stelle doch noch zu „sola scriptura“, später dazu mehr).
2) Beide Söhne bringen dem Herrgott Opfer dar.
3) Kains Opfer wird – zumindest nach Kains Ansicht (!) – vom Herrgott schlechter bewertet als Abels Opfer.
4)  Kain erschlägt Abel.
5) Der Herrgott verflucht ihn und setzt (nicht nur damit) ein Zeichen.

Obwohl diese Geschichte Jahrtausende alt ist, ist sie noch immer fester Bestandteil unseres kulturellen Wissens. Das hängt damit zusammen, dass man sie, wie jede gute Geschichte, von historischen, theologischen, anthropologischen, psychologischen oder auch genderspezifischen Blickwinkeln aus immer wieder neu betrachten kann. Diese Betrachtungsweisen sollen im Folgenden jeweils kurz skizziert werden, um die Differenz zum Semiotischen Blick, der Analysemethode, die im Zentrum dieses Blogs steht, hervorzuheben.

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