Tuesday, October 16, 2012

Politische Semiotik: Rote Armee Fraktion vs. Braune Mörder Bande


Heute führt uns der semiotische Spaziergang von Maos Roter Ampel zu Horst Mahlers Versuch einer neuen Straßenverkehrsordnung. Dabei machen wir allerdings einen Umweg, bei dem wir einen semantischen Blick auf die Rote Armee Fraktion werfen. Die folgende Geschichte, der ich nicht ganz traue, habe ich im Sammelband Die ALTE Straßenverkehrsordnung (Hervorh. von mir) gelesen. Sie wäre ein wunderbares Beispiel für eine geglückte Täuschung (ein semiotisches Manöver, wie wir sehen werden), wenn sie wahr wäre. Ich kann mir aus heutiger Sicht jedoch kaum vorstellen, dass in den 60er-Jahren die Journalisten und Justizkreise tatsächlich so naiv waren, wie sie im folgenden Text erscheinen. Andererseits hatten sie damals noch wenig Erfahrung mit der subversiven Phantasie der Stadtguerilla:

„Am 24.7.1971 meldete die Frankfurter Rundschau unter Berufung auf Justizkreise einen spektakulären Fall gelungener Resozialisierung. Der Untersuchungsgefangene Horst Mahler, ließen die Ermittlungsbehörden verlauten, habe in der Haft ein 70-seitiges „Verkehrsrecht- und Verkehrsaufklärungsheft“ geschrieben, welches nun unter dem Titel Die neue Straßenverkehrsordnung in linken Buchhandlungen verkauft werde.“ 
( Zit. nach: W. Pohrt, K. Hartung, G. Goettle, Kollektiv RAF, Die alte Straßenverkehrsordnung, 1987, S.5).
Wenig später wurde dieses Buch beschlagnahmt, weil man erkannt hatte, dass unter dem Titel Die NEUE Straßenverkehrsordnung (Hervorh. von mir) eine neue revolutionäre Weltordnung propagiert wurde. Interessant, wie sehr der an sich neutrale Begriff NWO fast ausschließlich mit George Bush und den Rechten assoziiert wird. Die NEUE Straßenverkehrsordnung, von der hier die Rede ist, enthielt Texte der Roten Armee Fraktion, in denen sie zum bewaffneten Kampf in Westeuropa aufrief.

Der Diskurs der und über die RAF ist ein vielschichtiges Beispiel für die Feinheiten politischer Semiotik. In der bürgerlichen Presse ist diese Gruppe, um einen möglichst neutralen Ausdruck zu verwenden, generell als „Baader-Meinhof-Bande“ bezeichnet worden, um damit ihren illegalen und kriminellen Charakter als Räuber- und Mörderbande zu betonen. Zugleich waren die Eigennamen ein Zeichen dafür, dass es sich dabei um individuelle Kriminelle handle und nicht um eine breite Bewegung.
Sich selbst sah die Gruppe hingegen als Rote Armee Fraktion, um ihre Gewalt historisch zu legitimieren und die ideologischen Blutsbande zur revolutionären Roten Armee Russlands im Namen herauszustellen. Wie stark dieser Name und die damit verbundenen politischen Farbcodes sind, merkt man, wenn man die RAF (und ich spreche hier nicht von der Royal Air Force) umfärbt: Himmelblaue, Lindgrüne, Braune oder Weiße Armee Fraktion generieren jeweils unterschiedliche Assoziationen; BAF – Braune Armee Fraktion lässt an den in den 60er-Jahren von Jürgen Habermas wiederbelebten Begriff des „linken Faschismus“ denken,
WAF – Weiße Armee Fraktion hätte sofort auf einen arisch-rassistischen oder zumindest konservativen Charakter schließen lassen, die „Weißen“ in Russland waren für den reaktionären Terror verantwortlich, die Weißen Suprematisten sind davon überzeugt, die bleiche Rasse wäre allen anderen überlegen. So viel zu weiß als Farbe der Unschuld.

Der Begriff Armee im Namen der Gruppe/Bande ist zugleich Drohgebärde und Versuch, die eigenen Aktionen zu legitimieren: Nur Armeen und Scharfrichter dürfen per definitionem töten. Das ist so „normal“, dass der Widerspruch „Soldaten sind Mörder“ (Tucholsky 1931) sofort die Gerichte auf den Plan ruft. 
Andererseits bedeutet „Armee“ – von lat. arma im Wortsinn zuerst nichts anderes als „bewaffnet“, „bewehrt“, „gerüstet“, womit die RAF auf das Recht/die Pflicht zum bewaffneten Kampf hinweist. Wenn man semantisch hellhörig ist, dann bemerkt man den feinen Unterschied zwischen bewaffnet und bewehrt: Staaten sprechen von Wehrpflicht, Armeen werden Wehrmacht oder Bundeswehr genannt, so als wären sie nur für Verteidigungskriege (= sich wehren) gedacht. Auf das dazu assoziativ sich mir aufdrängende gepanzerte Gürteltier = Armadillo komme ich im Zusammenhang mit der Vampirsemiotik noch zu sprechen: in einem Post, in dem Armadillos und die RAF gemeinsam eine Rolle spielen werden.
Gleichzeitig ist der Name Rote ARMEE Fraktion eine bewusste Provokation, weil zumindest im damaligen Westeuropa nur Staaten Armeen haben durften; a language is a dialect with an army and a navy.

Das Fraktion in der Roten Armee Fraktion spiegelt den Versuch, sich selbst als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen bzw. als Teil eines Ganzen (der revolutionären Massen) zu erscheinen. Lateinisch frangere bedeutet zerbrechen, die Fraktion ist daher ein Bruchteil, eine kleinere Gruppe, etwas Zusammengehöriges, die Avantgarde.
Fünfunddreißig Jahre nach der sogenannten Todesnacht von Stammheim spüre ich als Zeitzeuge beim Schreiben dieses semiotischen Tagebucheintrags noch immer, welche Sprengkraft diese Gegenüberstellungen auch heute noch haben: Rote Armee Faktion statt Baader-Meinhof oder Braune Mörder Bande. Daran sollten wir immer denken, wenn wir zwischen Regierung oder Regime (sprachlich=semantisch) wählen, zwischen Freedom Fightern oder Terroristen, zwischen Aggression und Rebellion (Re-Bell- ion / Bella gerant alii) - um es am Ende noch komplizierter zu machen.

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